Eigentlich ist unser Kolumnist villains_hero ja absoluter Cashgame-Spezialist und wir hatten auch schon das Vergnügen, seinen Text Turnierpoker ist nicht mein Ding, ich spiel ja auch kein Lotto veröffentlichen zu dürfen. Spätestens beim Main Event der WCOOP zeigte villains_hero jedoch, was in Massenturnieren in ihm steckt: Bei 2.443 Teilnehmern belegte er den 57. Platz und durfte sich über knapp 22.600 Dollar freuen. Hier sein in jeder Beziehung instruktiver Bericht:
Das Main-Event spielen oder nicht? Als die WCOOP begann, hatte ich das noch nicht entschieden. 5.200 Dollar Startgeld sind wahrscheinlich nicht nur für mich eine gewaltige Investition, insofern habe ich wochenlang geschwankt, ob ich als Hobby-Turnierspieler so viel Geld in einen derart varianzlastigen Spot investieren will.
Ein Hauptziel für dieses Jahr war erst einmal, während der Turnierwochen nicht so viel Geld zu verbrennen wie in 2009. Vor einem Jahr hatte ich während der Turnierserie ständig frühmorgens übermüdet in Highstakes-Cashgames herumgesessen, mir einen Edge vorgegaukelt und ohne Ende Kohle verballert. Ich hatte ja sonst nichts zu tun, konnte aber nicht schlafen gehen, weil ich noch in irgendeinem Turnier im Rennen war. Das sollte nicht wieder passieren. Dieses Jahr hatte ich mir 25/50-Verbot ab 2 Uhr morgens verordnet (und habe mich sogar fast daran gehalten). Anstatt Cashgames zu spielen, habe ich bei einsetzender Müdigkeit angefangen, neben den Turnieren „The West Wing“ zu schauen und mein unlängst entdecktes Aaron-Sorkin-Faible zu pflegen.
Das zweite Hauptziel war auch klar: An den Turniertischen das umsetzen, was ich hoffte, mir zuvor erarbeitet zu haben. In den Wochen vor der WCOOP hatte ich mir einige Turniervideos angeschaut, auf 2p2 gestöbert, anderswo gelesen und ansonsten versucht, MTTs konzentriert anzugehen und sie nicht wie üblich während der Brot-und-Butter-Cashgames nebenbei mitlaufen zu lassen als kleinen, aber letztlich kaum relevanten Spaß am Rande. Eigentlich war ich mir sicher, dass sich mein Verständnis für Stacksizes, Steal- und Resteal-Spots im Vergleich zum Vorjahr erheblich verbessert hat, aber der praktische Beweis dafür stand noch aus (das tut er leider immer noch).
Wirklich toll gelaufen ist es dann trotzdem nicht. Zwar standen am Ende der Serie vor dem Main-Event acht Holdem- und PLO-Cashes zu Buche (inklusive der 2nd-Chance-Events), so dass ich unterm Strich zwar schwarze Zahlen geschrieben habe, aber wer in gut 40 Turnieren nicht einmal den Final Table erreicht, dem mag trotzdem die Klasse für Größeres fehlen. Nur während eines dieser 40 Turniere hatte ich das Gefühl, auf dem Sprung zu sein, dick abzusahnen: Bei einem der 1k-NL-Holdem-Events (das letztlich Jason Mercier gewonnen hat) bin ich lange vorneweg marschiert, um dann morgens gegen 8 Uhr mit Streichhölzern zwischen den Augenlidern im Duell zweier Bigstacks unnötig per 3-Barrel-Bluff ¾ meines Stacks zu versenken, wonach die Chose bald beendet war.
Sebastian Ruthenberg ist dafür verantwortlich, dass ich in diesem Turnier mit seinen tausenden Teilnehmern überhaupt so weit gekommen bin. Irgendwo hatte ich nämlich gelesen, wie er einen 5bet-Bluff-Shove mit Axs gegen Zijgmund beschreibt: Zijgmund eröffnete, Ruthenberg spielte eine 3bet – und dieses schon mit der Idee, gegen die 4bet des superaggressiven Finnen per 5bet seinen Stack reinzustellen (woraufhin Ziggy schnell foldete).Nicht der 5bet-Shove als solcher hat mich beeindruckt, und auch der Umstand, dass Axs für Bluff-Shoves gut geeignet ist wegen a) brauchbarer Equity gegen alles und b) Blocker-Effekt, war mir nicht neu. Aber der Denkprozess des deutschen Vorzeigespielers hat mich beeindruckt: Man muss auf Zack sein im Kopf, um schon bei der 3bet zu sehen und planen, dass der Gegner weit 4betten wird, aber im Falle einer gegnerischen 4bet die Stacks und die Hand ideal sind für einen 5bet-Bluff-Shove; Respekt, Herr Ruthenberg.
So toll wie der will ich auch spielen – im Level 300/600 des besagten NL1k-Events kam die Gelegenheit: Am Button eröffnet ein Villain mit 47k dahinter, Hero im SB mit A 5 und 40k Chips. Der Villain schien kompetent zu sein (also zu 4bet-Bluffs in der Lage), hatte bis dahin in später Position sehr viel eröffnet und gegen 6 3bets 5-mal gefoldet, zu viel. Hero hingegen hatte recht aggressiv ge3bettet.
Hier hatte ich nun das Gefühl, dass der Villain gegen eine erneute 3bet alleine seiner Frequenz wegen so langsam mal zurückspielen muss, um nicht weiter beraubt zu werden. Also mach‘ ich den Ruthenberg: Hero 3bet, Villain 4bet, Hero 5bet-Shove – und Villain snapcallt mit TT. Ups.Nun sind wir an der Stelle angelangt, die in diesem Report zwangsläufig kommen musste: Ich kann den oben beschriebenen Spot nicht so recht beurteilen, weil ich leider von Turnierpoker immer noch nicht genug verstehe. Zwar nehme ich an, dass Villains Spiel gegen jemanden, der so aggressiv daherkommt wie ich in den 150 Händen zuvor, ziemlich Standard war, weiß es aber nicht genau. Sicher macht sein TT bei 65BB eff. Stacks per 4bet/call Profit, andererseits macht er damit das Varianz-Fass ganz weit auf, weil er oft flippen wird und immer mal gegen JJ+ ziemlich schlecht aussieht und ausscheidet. Call mag preflop eine gute, vielleicht sogar bessere Alternative sein – auf diese Weise kassiert er von Heros Bluffs noch mindestens die cbet, vielleicht mehr.
Call mag aber auch die klar schlechtere Alternative sein, wenn abzusehen ist, dass Hero gegen eine 4bet sehr leicht für Value und/oder oft als Bluff 5bet-shoven wird. Falls er genau das gedacht und dann die 4bet angesetzt hat, dann einmal mehr: Respekt, Villain, gut gespielt. Aber konnte er wirklich davon ausgehen, dass Hero leicht 5bet-shovt gegen seine allererste 4bet? Ich weiß es nicht, weil ich nicht einschätzen kann, wie sich Turnierspieler dieses Levels in solchen Spots „standardmäßig” verhalten.
Deswegen kann ich auch Heros Spiel im Nachhinein nicht so recht beurteilen. Ich nehme zwar an, dass mein 5bet-Bluff nicht gänzlich neben der Spur war, sondern durchaus gesund begründet angesichts der Dynamik bis dahin und der für diesen Move passenden Stacksizes (?). Aber letztlich gehe ich per 3bet/5bet davon aus, dass ein Spieler, der bis dahin nicht ge4bettet hatte, mich nun leicht 4betten wird – das mag ein Fehler sein, muss aber nicht, keine Ahnung. Da müsste man jemanden fragen, der sich mit sowas auskennt.
Obwohl ich mich offensichtlich nicht auskenne, zeigt die Hand hoffentlich doch, dass ich im Turnierpoker nicht mehr ein ganz so schrecklicher Hanswurst bin wie noch vor einem Jahr. Ihr Verständnis für Stacksizes und die Möglichkeiten, die verschiedene Stacks den Spielern geben, unterscheidet beim Turnierpoker die einfachen von den schrecklichen Hanswürsten. Ich glaube schon, dass ich von der zweiten in die erste Kategorie aufgestiegen bin. Mittlerweile schaue ich vor jedem Opener, wer mit welchem Stack hinter mir sitzt, und wie sich die Leute mit diesen Stacks gegen jemanden mit meinem Stack tendenziell verhalten werden. Daraus ergibt sich dann ein Plan, was in etwa zu tun ist.
Fortsetzung morgen
Dieser Artikel erschien auf PokerOlymp am 15.10.2010.