Auch in seinem neuen Strategieartikel hat sich unser hochgeschätzter Kolumnist villains_hero einer Leserfrage angenommen. Krumme Lanke hatte sich nach den Unterschieden zwischen Live- und Online-Poker erkundigt und etwas keck die These aufgestellt, dass Live-Spieler im Internet keine Chance haben. Hier villains_hero Antwort:
Live wie online spielen wir dasselbe Spiel mit denselben Regeln und Gesetzmäßigkeiten. Trotzdem habe ich die Erfahrung gemacht, dass sich Live-Tische komplett anders spielen als Online-Tische. Weil das Spiel dasselbe ist, liegt es wohl vor allem an den Spielern.
Ein grundsätzlicher Unterschied besteht darin, dass wir am Live-Tisch mit unseren Gegenspielern reden können, sie sehen und einen Eindruck davon bekommen, wie sie sich fühlen. Wie bedeutend dieser Unterschied ist, wie viel zusätzliche Information wir daraus ziehen können, das frage ich mich allerdings noch. Als ich angefangen habe, regelmäßig ernsthaft live zu spielen, da habe ich Dinge wie Tells und Live-Reads als bedeutungslos abgetan, einfach weil es so offensichtlich ist, dass ein normaler Online-Mid/Highstakes-Grinder an jedem beliebigen Live-Tisch in deutschen Casinos einen riesigen Vorteil hat. Wozu braucht es da Reads? Außerdem war ich anfangs viel zu sehr damit beschäftigt, Chips zu stapeln, Potsizes auszurechnen, und überhaupt erst einmal zurechtzukommen im ungewohnten Setting. Da blieb keine Zeit und es fehlte die Routine darauf zu achten, ob einer der Villains Signale aussendet, die sich verwerten lassen.
Wie groß der Vorteil über einen Tisch auch sein mag, man sollte trotzdem danach trachten, ihn so weit zu vergrößern, wie das möglich ist. Auf jeden Fall ist live mehr Information verfügbar als online, und diesen Umstand verstehe ich mittlerweile als Verpflichtung zu versuchen, etwas daraus zu machen. Manchmal geht halt auch gegen unterirdische Casino-Spieler in sehr knappen Spots der Stack rein, und es würde den Stundenlohn liften, ließe in solchen Spots sich mithilfe von Live-Tells die gegnerische Range in Richtung Bluff gewichten oder in Richtung Monster.
Caros Book of Poker Tells habe ich zwar immer noch nicht gelesen, aber je mehr ich jetzt an Live-Tischen sitze, desto mehr beschäftigen mich die Signale, die ich empfange. Zwar sehe ich mich in dieser Hinsicht als Anfänger, bin da erst einmal vorsichtig und habe ich mich bei großen Postflop-Entscheidungen noch nie von solchen Signalen leiten lassen. Aber ich bin schon ganz zufrieden damit, dass ich neulich bei der UKIPT in Manchester relativ spät im Turnier zweimal aufgrund von Preflop-Tells erfolgreich mit Schrott ge3bettet habe, einmal mit 84o und einmal mit J4o. Vor einigen Monaten hätte ich diese Spots sausen lassen, jetzt habe ich jeweils über 20% meines Stacks investiert, weil ich mir fast sicher war, dass der Villain irgendeine Quatschhand eröffnet hatte. Zwei erste kleine Erfolge. Außerdem versuche ich darauf zu achten, keine Information preiszugeben. Neulich habe ich irgendwo aufgeschnappt, dass ein Spieler, der während einer Hand etwas trinkt, meistens ein starkes Blatt hat – oops, Volltreffer. Diesen Tell hatte ich definitiv und habe ihn jetzt abgestellt bzw. gedenke, ihn künftig gezielt einzusetzen gegen starke Spieler, die sich vielleicht irreführen lassen.
„Live-Spieler haben online keine Chance“, sagt Krumme Lanke und will wissen, ob ich zustimme. Im Prinzip tue ich das, auch wenn ich glaube, dass die Kategorisierung in Live- und Online-Spieler die Wirklichkeit nur unvollständig beschreibt, weil die Grenzen zusehends verwischen. Keine Chance haben online sicher jene Spieler des vergangenen Jahrhunderts, die das Spiel im Casino-Umfeld gelernt haben, umgeben von Zockern und anderen Kaputten, die dort im staatlichen Auftrag um ihr Geld gebracht werden und edles Ambiente vorgegaukelt bekommen. Wer Poker mit Zocker-Attitüde angeht und sich der Theorie des Spiels verweigert, der verliert, sobald er von kompetenten Gegenspielern umgeben ist, und das ist online eher der Fall als live.
Allerdings ist online nicht gleich online. NL2000 ist eine andere Liga als NL600 ist eine andere Liga als NL200 ist eine andere Liga als NL50; die durchschnittlichen Partien in diesem Limits kann man kaum miteinander vergleichen. Die Regulars in jedem dieser Limits haben aber gemeinsam, dass sie technisch relativ sauberes Poker spielen: solide Starthandauswahl, solides Betsizing, wenige grobe Fehler. Insofern steht dort jeder Zocker ohne Theoriekenntnisse auf verlorenem Posten, ob nun in den Small- oder Midstakes.
Natürlich ist nicht jeder Live-Spieler ein degenerierter Zocker, der einfach nur mit Geld um sich schmeißt. Je mehr Leute herausfinden, welch ein kurzweiliges, geselliges Vergnügen No-Limit Texas Hold’em ist, desto mehr Hobbyspieler finden sich an den Live-Tischen ein. Freundliche Menschen, die wahrscheinlich ihren Dan Harrington und ihren Phil Gordon gelesen haben. Mit diesen Grundkenntnissen kommen sie im Casino schon relativ weit, denn das reicht bequem, um die Zocker zu besiegen. Und es reicht auch, um ein bisschen mit den Profis mitzuspielen, ohne Gefahr zu laufen, sofort Haus und Hof zu verlieren. Sobald ein Villain preflop eine halbwegs solide Starthandauswahl hat und postflop nicht zu üblen Aussetzern neigt, schmilzt der Edge des Profis rapide. Natürlich hat der Profi immer einen Vorteil, aber gegen solche Hobbyspieler ist Poker Arbeit. Oft dauert es ein paar Stunden, bis der Spot generiert ist, in dem der Amateur seinen Stack verliert. Wenn überhaupt.
Aber was im Casino ein paar Stunden dauert, das ist online eine Sache von Minuten. Und das ist der entscheidende Punkt. Online geht viel schneller, es sind vergleichsweise viel mehr Entscheidungen zu treffen, und insofern ergeben sich viel mehr Chancen, grobe Fehler zu machen. Dazu kommt das stärkere Umfeld, der Druck der anderen, den ein Casino-Spieler so nicht gewöhnt sein dürfte. Wer sich online in ein NL400 setzt, der ist mit hoher Wahrscheinlichkeit umgeben von fünf Villains, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen, jeden Tag ein paar Stunden an 4, 8, 12 oder mehr Tischen Poker zu spielen. Diese Leute machen zwar Fehler, reihenweise sogar, aber auf einem ganz anderen Level. Im Prinzip sind sie solide, spielen ihren Kram herunter, und sie werden es ausnutzen, sobald der ambitionierte Hobbyspieler oder Casinospieler arg danebengreift. Der Online-Grinder sieht diesen Gelegenheitsspieler in seinem HUD als 36/8 oder als 24/11 oder dergleichen, und das sagt ihm, dass dieser Spieler zwar nicht unterirdisch ist, aber früher oder später einen groben Fehler machen wird.
Wer dieser Tage auf Pokerstars vorbeischaut, der wird oft auch tagsüber etwas mehr NL2000-Partien sehen als üblich. Die meisten dieser Partien laufen, weil sich dort derzeit zwei Villains in Regionen bewegen, in die sie ihrer Spielstärke nach nicht gehören. Der eine ist etwa 30/15, der andere noch etwas looser, beide sind recht kreativ und keinesfalls doof, wissen in etwa, was sie tun und wehren sich gehörig (gegen einen der beiden bin ich ordentlich in den Miesen). Zwar verbrennen beide nicht rasant Geld, aber letztlich sind sie beide in einigen Spots zu loose, in anderen nicht aggressiv genug oder zu aggressiv, und sie werden das anhand ihrer Ergebnisse bald merken, eher kurz- als mittelfristig. Beide spielen in etwa so unausgewogen wie viele Leute, die man im Casino trifft. Der eine hat seine Bankroll unlängst durch einen großen Turniergewinn in ungeahnte Höhen getrieben, der andere – keine Ahnung.
Online in etwas höheren Limits ist es Standard, solche Partien mit vier Regulars und einem mediokren Villain zu spielen und den dünnen Edge, den solche Tische hergeben, auszureizen. Das vergleichsweise niedrige Rake macht es möglich. Live ist das Rake unverschämt hoch – aber der Edge auch, ebenso wie die Stakes, gemessen an der durchschnittlichen Spielstärke. Deswegen sind viele Online-Grinder zum Live-Poker konvertiert, zumindest teilweise, auch deswegen kann ich mit der Trennung Live- vs. Online-Spieler wenig anzufangen. Tom Dwan sei als prominentester Spieler genannt, der früher Tag vor Tag vor seinem Bildschirm hockte und nun mehr und mehr die großen Partien in Vegas aufmischt. Dwan ist nicht der einzige. Die Sonne sieht er zwar weiterhin nicht so oft, aber mittlerweile hantiert er mehr mit Chips und nicht mehr Tag für Tag mit der Maus.
Als vor gut 10 Jahren in der Anfangszeit des Onlinespiels einige ziemlich schlaue Leute begannen, Poker als theoretischen Komplex zu verstehen und sich diesen weit über David Sklanskys Grundlagen hinaus zu erschließen, da entstand im Forum twoplustwo eine Gemeinschaft von Pokerfreunden, die eine Menge Pionierarbeit geleistet haben (und dafür üppig belohnt worden sind dank der damals unfassbar weichen Partien). Einige dieser Forumslegenden und Weltklassespieler sind nach und nach zum Live-Poker gewechselt. Viele der mit dem unzureichenden Begriff „Live-Spieler“ bezeichneten Leute sehen wir oft im Fernsehen, sei es beim Cashgame oder in einem Turnier. Und wir sehen dort viele Leute, die eben beide Disziplinen spielen und sich weder der Live- noch der Online-Kategorie zuordnen lassen.
Wer beim TV-Live-Poker zuschaut, der sieht, dass das durchschnittliche Niveau am Live-Tisch zwar weiter bescheiden ist, dass aber die wirklich guten Spieler sehr stark sind, hier wie dort. Hat mal jemand „German Highrollers“ geschaut? Wahrscheinlich lechze nicht nur ich danach, dort mitspielen zu dürfen, aber das ändert nichts daran, dass dort einige sehr, sehr gute Spieler am Tisch sitzen. Markus Golser etwa, wohl vor allem ein Live-Spieler, und zwar ein überaus respektabler meines Erachtens. Oder Online-Legende Simon „Schnibl0r“ Münz, der zwar vor allem im Limit Holdem sensationell stark ist, aber auch beim NL ganz gut durchblickt und immer mal wieder beim TV-Live-Poker auftaucht (kann mir jemand seinen check/shove neulich gegen Johannes Strassmann erklären?). Andererseits sitzen unter den „Highrollers“ aber auch ausschließlich live spielende „Profis“ der alten Schule links von Hermann Pascha am mit Abstand besten Platz des Tisches – und anstatt diesen Vorteil auszureizen, spielen sie trotzdem nur 12% ihrer Hände. Das ist kein Zeichen von Klasse, die beim Poker auf Expertenniveau in erster Linie darin besteht, sich den Umständen anzupassen und schneller zu adaptieren als der/die Gegenspieler.
Schauen wir weiter Fernsehen, aber international. Mir fällt Antonio Esfandiari ein (ob der schonmal online gespielt hat?), den ich angesichts dessen, was ich so im TV sehe, für exzellent halte. Hochintelligent, stets bis zum Anschlag fokussiert, zugleich entspannt plaudernd. Die übelste Varianz vermeidet er in den ganz großen Partien, geht Ivey und Dwan tendenziell aus dem Weg, findet aber trotzdem Möglichkeiten, in diesen Runden seinen Schnitt zu machen. Oder Allen Cunningham, sehr guter Mann. Um also die finale Frage von Krumme Lanke zu beantworten: Ich bin mir sicher, dass solche Leute sich überall durchsetzen – weil sie schlichtweg sehr gute Spieler sind, die adaptieren können. Esfandiari online in einem starken NL5k (also gegen die zweite Garde der Online-Weltklasse) hätte anfangs wahrscheinlich Probleme, weil er weder 100BB-Stacks noch derartige Aggression gewöhnt ist. Aber er würde schnell lernen, und dann müsste man mal sehen, wer am Ende die Probleme hat.
Leute wie Phil Hellmuth ernst zu nehmen, ist dagegen nicht so leicht. Wer einen Bluefirepoker-Account hat, der möge sich die Videos seines HU-Matches gegen Jason „PBJaxx“ Senti anschauen, da bleiben nicht viele Fragen offen. Oder, krassestes Beispiel, Eli Elezra, der im Fernsehen als „Profi“ auftritt. Ist er vielleicht auch, womöglich sogar beim Poker, aber bestimmt nicht beim NL Holdem. Neulich sagte Elezra „Mjam, mjam“, als er in der aktuellen Folge von HSP nach Online-Spielern gefragt wurde. Daran fand ich vor allem erstaunlich, dass ihm als offensichtlichem Tablefisch eine solche Ansage nicht peinlich war, denn es vergeht keine dreiviertel Stunde, in der Elezra vor laufenden Kameras nicht mindestens einen elementar-groben Bock schießt. Und eigentlich sollte ihm klar sein, wie schlecht er ist, denn er dürfte Geld verlieren. Nie im Leben spielt der Mann gegen derart starke Lineups profitabel, im Gegenteil, er ist der Zahlmeister, dem wahrscheinlich nicht die Intelligenz, aber bestimmt das Handwerkszeug fehlt, um sich gegen Otto-Normal-NL200-Regulars durchzusetzen.
Er spielt aber auch andere Varianten, und das mag ein Unterschied sein, bei dem das Pendel zugunsten der Live-Profis umschlägt. Im No Limit Holdem hat jemand wie Elezra gegen halbwegs solide Gegnerschaft keine Chance, beim Triple Draw mag das ganz anders aussehen. Oder beim Stud. Diese Varianten erschließen sich viele der Online-Spieler nur ganz langsam, aktuell vor allem PLO. Die alten Live-Spieler haben darin jahrelang Erfahrung und wahrscheinlich vielfach einen Vorteil gegen Leute, die beim Holdem mit ihnen den Tisch wischen würden. Aber auch in dieser Hinsicht schwingt das Pendel langsam in die andere Richtung. Aktuell boomt PLO, und parallel steigt online die Zahl der hohen 8-Games und 7-Games zusehends. Und damit die Zahl kluger Leute, die viel Arbeit in das Studium dieser Spiele investieren, was unter Zockern eher nicht üblich ist.
Dieser Artikel erschien auf PokerOlymp am 27.02.2010.