Man schrieb das Jahr 2005, als Dan Harrington mit seiner dreibändigen Turnierbuch-Serie das Pokerspiel revolutionierte und zum Beispiel die Continuation-Bet endgültig salonfähig machte. Das ist zeitlich nicht lange, aber in bezogen auf die Entwicklung des Pokerspiels sind diese sieben Jahre eine Ewigkeit.
Harrington on Hold’em ist nicht mehr aktuell
Wer heute an den Turniertischen bestehen will, kommt mit ausschließlich Harringtons Empfehlungen jenseits der Micro-Limits nicht mehr allzu weit, sondern wird von den ständigen Raises und Reraises links und rechts allmählich zermürbt. Einer der erfolgreichsten Vertreter der modernen aggressiven Pokerschule, der Franzose Bertrand „ElkY“ Grospellier, hat vergangenen Sommer in Zusammenarbeit mit Lee Nelson, Tysen Streib und Tony Dunst mit The Raiser’s Edge ein Buch herausgebracht, das nicht nur den jüngsten Entwicklungen des Pokerspiels Rechnung trägt, sondern auch einen Blick nach vorne wirft.
Dem deutschen Verlag Premium Poker Publishing ist es zu verdanken, dass das Buch jetzt auch in deutscher Sprache erhältlich ist und somit wirklich allen hierzulande Interessierten zugänglich gemacht wurde. Worum es in dem Buch geht, sagt schon der Titel „The Raiser’s Edge“, der für die deutsche Ausgabe beibehalten wurde. Einerseits ist er wörtlich zu verstehen, das heißt, wer raist und aggressiv vorgeht, ist meist im Vorteil, doch gleichzeitig klingt die Redewendung „on a razor’s edge“ an, die auf Deutsch mit „auf Messers Schneide“ wiedergegeben werden kann.
Aggressiv, aber nicht zu aggressiv
Genau um diesen schmalen Grat, aggressiv, aber nicht zu aggressiv zu sein, geht es in ElkYs Buch, das neben vielen praktischen Ratschlägen und Handanalysen auch eine Menge theoretisches Material enthält. Computersimulations-Guru Tysen Streib, der schon viele Tabellen zu Kill Everyone beisteuerte, liefert eine Vielzahl von sogenannten Equilibrien, also spieltheoretisch optimalen Spielweisen vor dem Flop. Das sind keine Tabellen zum Auswendig-Lernen, sie geben dem Leser aber einen guten Eindruck, wie er sich im aggressiven Umfeld der Moderne zur Wehr setzen kann.
Doch nicht nur für das Spiel vor dem Flop liefert „The Raiser’s Edge“ eine umfangreiche Sammlung von Ratschlägen. Genauso werden viele Situationen nach dem Flop thematisiert, von Semi-Bluffs bis zu Check-Raises und Value Bets auf dem River wird das gesamte Spektrum abgedeckt. Außerdem liefert das Buch eine ziemlich genaue Charakterisierung von Live- beziehungsweise Online-Spielern und welche Anpassungen gegen die jeweilige Gattung vorzunehmen sind. Eine hübscher Bonus für alle, die bislang vor allem im Internet spielten, sind die Ausführungen des Körpersprache-Experten Steven van Aperen, der viele interessante Analysen zu Gestik und Mimik liefert.
Aus dem Inhalt von “The Raiser’s Edge”
Das Buch beginnt gleich mit dem Einstieg auf der Meta-Ebene und beschreibt, wie sich verschiedene Strategien darwinistisch über die Jahre ablösen und bis heute zu einem hyper-aggressiven Lag-Stil geführt haben, in dem die Aktionen vieler Spieler äußerst mysteriös erscheinen.Anhand von vielen Beispielen bringt das Buch Licht in dieses Mysterium und erklärt an vielen Beispielen, warum diese hyper-aggressive Spiel funktioniert. Unterschiedliche Gegner-Typen werden durchleuchtet und Strategien gegen den hyper-aggressiven Stil ausgearbeitet.Im weiteren Verlauf zeigt das Buch, wie man eine Hand grundsätzlich spielen sollte – wie man für eine Hand einen Plan entwickelt. Während diese Überlegungen alle noch allgemeiner Natur sind geht das Buch über weite Teile intensiv und explizit auf Turnier-Poker ein und macht dem Leser im Mindesten deutlich, wie enorm sich diese Variante seit Harringtons Büchern entwickelt hat und welches Arsenal ein heutiger Spieler beherrschen muss, um eine Chance zu haben.
The Raiser’s Edge ist ein wichtiges Buch innerhalb der Pokerliteratur, aber für Anfänger eher ungeeignet, dafür setzen die Autoren schlicht zu viel voraus. Aber wer sich bei Turnieren mit mittleren und höheren Buy-Ins behaupten will, kommt an diesem Buch kaum vorbei, wenngleich einige der äußerst vielen Analysen ein wenig oberflächlich und bisweilen auch etwas unübersichtlich ausfallen.
Dan Harrington setzte mit seiner Buchreihe einen Meilenstein in der Pokerliteratur, der mittlerweile zwar von der Pokerwelt eingeholt wurde, aber vielen Spielern enorme Spielstärkezuwächse brachte. Ein ähnliches Schicksal dürfte The Raiser’s Edge beschieden sein: Heute kommt man daran nicht vorbei, doch was in fünf Jahren ist, weiß keiner.
Das Buch ist erschienen im Premium Poker Publishing Verlag (PokerBooks.de) und ist für €29,90 in Hardcover-Variante zu kaufen.
Dieser Artikel erschien auf PokerOlymp am 15.02.2012.