Als neuen, regelmäßigen Kolumnisten begrüßen wir auf PokerOlymp villains_hero, der nicht nur ein erfolgreicher Pokerspieler, sondern auch –autor ist. villains_hero möchte seinen bürgerlichen Namen nicht verraten, regelmäßigen Gästen des 2+2-Forums ist er aber als anerkannter Autor wohlbekannt. Unser neuer Kolumnist ist gelernter Tageszeitungsredakteur, seinen Job hat er vor Kurzem aufgegeben, um sich ganz dem Pokerspiel zu widmen. Aktuell spielt villains_hero vor allem NL-Hold’em 1k und 2k Cashgame, aber auch höher.
Hier sein erster Artikel:
Edge
„Hourly is king“, Stundenlohn ist König – eine essenzielle Poker-Wahrheit, wie ich finde. Wer mit Poker möglichst viel Geld verdienen will (und wer will das nicht?), der muss aus seinen Möglichkeiten das Maximum herausholen, um den bestmöglichen Stundenlohn zu realisieren.
Drei harte und mit Zahlen beschreibbare Faktoren beeinflussen diesen Stundenlohn: die Winrate, die Zahl der pro Stunde gespielten Hände und die Stakes. Weil die Winrate sinkt, je mehr Hände/Tische wir spielen und je stärker unsere Gegner sind, müssen wir im Lauf der Karriere die rechte Balance zwischen diesen drei Faktoren finden, damit am Ende das optimale Ergebnis steht.
Die optimale Balance ist von Spieler zu Spieler individuell. Spieler A masstablet kleinere Stakes und kommt vor allem wegen der vielen gespielten Hände auf seinen Schnitt. Spieler B mag genauso viel verdienen, aber er macht das, indem er auf höheren Stakes an weniger Tischen eine höhere Winrate erzielt. Am Ende des Tages steht bei A und B dieselbe Zahl unterm Strich, beide haben mit ihren Mitteln aus ihren Möglichkeiten das Maximum herausgeholt – glauben sie zumindest. Vielleicht wäre aber für beide noch mehr drin gewesen, wenn sie bei der game selection im Lauf ihrer Sessions einen vierten Faktor einbezogen hätten.
Den Edge nämlich. Das ist kein harter Faktor, er lässt sich auch nicht mit Zahlen beschreiben, aber ein mitentscheidender. Je größer unser Edge im Verlauf der Session am Tisch allgemein und in jeder einzelnen Hand, desto mehr $$. Klingt ziemlich Banane, macht aber den Unterschied aus, also bitte nicht weiterlesen. Ich zähl mal ein paar Faktoren auf, die wir auf dem Schirm haben müssen, um während der Session unseren Edge insgesamt und an jedem einzelnen Tisch einzuschätzen – und daraus Schlüsse zu ziehen, ob das, was wir gerade machen, gut ist für unseren Stundenlohn, oder ob wir etwas ändern sollten, um mehr Hände mit möglichst großen Edge zu spielen.
1) Die Villains: Dass wir wegen des Rakes verlieren, wenn wir ausschließlich gegen Gleichstarke spielen, hat sich wahrscheinlich herumgesprochen. Das Rake müssen wir also einbeziehen, wenn wir unseren Edge abschätzen. Wir als solider Regular, umgeben von fünf anderen soliden Regulars, haben keinen Edge. So lange alle sechs Spieler ihr A-Game bringen, werden alle sechs verlieren, weil sie sich ausschließlich als Rakeproduzenten betätigen. Wenn aber nun von den sechs Villains einer weak-tight ist, dann ist es nicht mehr so klar. Ob wir aber gegen dieses Lineup plus das Rake immer noch -EV sind oder vielleicht sogar einen kleinen Edge rausholen können, das hängt von Faktor 2 ab.
2) Die Position: Mit dem weak-tighten Spieler zu unserer Rechten und ansonsten fünf soliden Regulars haben wir klar die schlechteste Position am Tisch. Von rechts kommt nicht viel Überzogenes, das wir ausnutzen können, und nach links können wir uns nicht viel erlauben. In diesem Szenario verlieren wir mehr als die anderen Regulars, weil wir den schlechtesten Platz am Tisch haben. Sitzt der weak-tighte Spieler aber links von uns, haben wir vielleicht sogar einen kleinen Edge. Wir können dank des harmlosen Villains zu unserer Linken beim Eröffnen ein bisschen mehr aufmachen und es ansonsten ausnutzen, sobald sich rechts von uns jemand eine Blöße gibt. Das mag schon reichen, um das Rake zu schlagen und obendrein noch ein bisschen Profit herauszuholen. Ob sich so ein Tisch lohnt, fragt sich trotzdem.
Letztlich suchen wir möglichst schlechte Gegenspieler. Allein die Anwesenheit eines Fisches am Tisch bedeutet meistens, dass wir an diesem Tisch einen Edge haben sollten. Aber dieser Edge mag gigantisch sein oder marginal, je nachdem. Die Position wird zum wesentlichen und auch von starken Spielern unterschätzten Faktor hinsichtlich unseres Edges, wenn ein unterirdischer Villain am Tisch sitzt. Gegen so einen Spieler wollen wir so viele Hände wie möglich spielen, weil wir in jeder Hand allein aufgrund unseres Spielstärkevorsprungs einen schönen Edge haben.
Sitzt der Fisch rechts von uns, dann können wir an diesem Tisch einen Riesenedge verbuchen. Wir werden preflop erheblich aufmachen und ohne Ende in Position Hände gegen einen unterlegenen Villain spielen, besser geht es nicht. Sind dann die Gegenspieler auch noch tight, haben wir in diesem Szenario sogar noch UTG (also mit dem Fisch im BB) erheblich mehr Möglichkeiten als sonst. Haben wir den Villain aber direkt links, der denkbar schlechteste Fall, ist der Edge wesentlich kleiner, manchmal sogar nicht mehr existent: wir spielen weniger Hände gegen ihn als im anderen Szenario und das auch noch ohne Position. Mit dem Fisch in anderen Positionen steht und fällt unser Edge mit den anderen Villains. Je mehr sie zulassen, je mehr Hände sie uns gegen den Fisch spielen lassen, desto größer unser Vorteil. Je weniger sie zulassen, desto kleiner.
Und letztlich gibt es leider auch noch Regulars, die besser sind als unsereins. Mit dem Fisch links und ansonsten vier überlegenen Gegnern haben wir in den meisten Fällen keinen Edge oder allenfalls einen kleinen – und sollten überlegen, diesen nur auf den ersten Blick lohnenden Tisch zu schließen, womit sich ja immerhin unser Edge an den anderen Tischen vergrößert. Denn je weniger Tische wir spielen, desto höher die Winrate.
3) 6max oder Full Ring: Wenn nicht gerade Punkt 1) und 2) komplett gegen uns sprechen, dann reicht in der Regel beim 6max ein sehr schlechter Spieler am Tisch, um uns einen Edge zu sichern, auch wenn sich dessen Größe von Fall zu Fall sehr unterscheiden mag. Beim Full Ring ist das anders. Der Kuchen in Form des Fisch-Stacks ist nicht größer als beim 6max, aber es sitzen deutlich mehr Leute am Tisch, und sie alle haben ihr Messer gezückt, um sich ein Stück abzuschneiden. Logisch, dass da für jeden einzelnen weniger übrigbleibt.
Mit nur einem schlechten Spieler in einem Full-Ring-Game haben Punkt 1) und 2) noch größeren Einfluss darauf, ob wir überhaupt einen Edge haben und, wenn ja, wie groß er ist. So groß wie beim 6max wird er aber auch im Idealfall mit dem Fisch direkt rechts niemals sein, weil beim Full Ring unser Spielraum für marginale Plays kleiner ist, speziell in früher Position. Und sitzt der Fisch irgendwo links von uns, dann bleibt in der Regel am Full-Ring-Tisch nicht viel bis gar kein Edge übrig – abhängig allerdings wieder einmal von den anderen Villains. Oft, meistens in Highstakes-Partien, halte ich beim Full Ring mit nur einem schlechten Villain meinen Edge für so klein, dass ich den Tisch sausen lasse, was ich beim 6max kaum einmal mache.
Allerdings gibt es beim Full Ring unterhalb der Highstakes mit einem Fisch auch den Fall, dass viele der Regulars so harmlos sind, dass sich daraus doch wieder ein Edge ergibt, auch wenn der Fisch am anderen Ende des Tisches sitzt. Generell sind die Villains beim Full Ring schlechter als beim 6-max, was m.E. ein wesentlicher Grund dafür ist, warum auch in Full Ring Games sehr ordentliche Winrates möglich sind. In Full Ring Games mit einem eindeutigen Target-Spieler kommt dazu, dass hier oft Regular-Bumhunter mit überschaubarer Spielstärke und scared money am Tisch sitzen.
4) Die Zahl der Tische: In je mehr Hände wir die schlechten Spieler verwickeln können, desto größer unser Edge. Auch aus einem ohnehin schon sehr guten Tisch können wir noch ein bisschen mehr Edge herausquetschen, indem wir möglichst viele Spots wahrnehmen, in denen wir eine marginale Hand gegen den Targetvillain spielen. Erstmal haben wir ohnehin in jeder dieser Hände einen Edge, außerdem soll der Fisch uns als Action-Spieler wahrnehmen, was sich mittelfristig auszahlen mag. Das heißt aber, dass wir in dieser Konstellation häufig mit Händen ins Gefecht ziehen, die wir ansonsten gemuckt hätten, dass an solchen Tischen unser VPIP deutlich höher ist als sonst, und dass wir an solchen Tischen im Schnitt deutlich mehr knappe Entscheidungen treffen müssen als anderswo. Das rechnet sich, kostet aber Aufmerksamkeit, und die ist bei jedem limitiert. Daher mag es profitabel sein, einen Tisch mit marginalem Edge zu schließen, um am sehr guten Tisch ja nichts liegen zu lassen. Das gilt umso mehr, wenn der beste Tisch in hohen Stakes ist (so lange wir dort komfortabel spielen können) und die marginalen Tische in kleineren.
5) Ehrlichkeit mit sich selbst: Im Verlauf der vergangenen Monate habe ich mehrere Male über wenige Hände 25 bis 40k verloren. Passiert sind diese Abstürze jeweils, weil ich in großen Partien einen Edge gesehen habe, obwohl keiner da war. Klar, die Tische waren okay, aber immer noch so tough, dass ich schon alles hätte abrufen müssen, um dort einen signifikanten Edge zu verbuchen. Alles abrufen geht aber nicht immer. Wahrscheinlich bin ich nicht der einzige, zwischen dessen A-Game und C-Game Welten liegen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Spielstärke mehr schwankt als die anderer. Ich bin leider nicht sonderlich stabil. Das aufzuschreiben und öffentlich zu bekennen, ist kein Problem, aber diese Einsicht in die game selection einzubauen, fällt mir sehr schwer. Wer müde ist oder abgelenkt, der sollte sich bewusst machen, dass er auch aus einem günstig komponierten Tisch deutlich weniger herausholen wird als in Topform. Und ist der Tisch nur marginal günstig, dann mag der angenommene Edge gar nicht existieren, im Gegenteil. Generell gilt: Der Edge steht und fällt mit der Form, und die schwankt.
6) Sexy Lineups help focussing: In tighten Partien gegen ausschließlich ABC-Regulars mach ich auf Dauer Miese. Spielerisch komme ich gut zurecht, aber sobald ich mit dem ersten und dem zweiten Move durchgekommen bin, fange ich an, es zu übertreiben und bringe mich dann irgendwann um. Sitzen aber spektakuläre, loose-aggressive Villains am Tisch, passiert das nicht. Je spannender die Gegnerschaft, je mehr Action am Tisch, desto leichter fällt es mir, fokussiert zu bleiben, jede Hand bewusst zu spielen und nicht ins gedankenlose Knöpfchendrücken oder in den Spewmodus zu verfallen. Wenn ich mal ohne Edge eine toughe Partie spielen will, dann immer eine, die loose ist. Da bin ich besser. Vielleicht geht das anderen auch so.
7) Die Perspektive: Manchmal gibt es ohne Ende Tische, aber sie alle sind marginal. Bringt also nicht viel, davon 4 oder 8 oder 12 zu besetzen und loszuspielen. In dem Fall mag sich nicht sofort, aber mittelfristig ein größerer Edge ergeben, wenn wir neue Partien starten. Supershorthanded gegen andere Regs bringt uns unmittelbar nichts, aber andere Regulars werden sich nicht so gerne dazusetzen, und irgendwann macht es dann Plopp und plötzlich haben wir das perfekte 6max-game, weil auf den drei eben noch freien Plätzen plötzlich drei unterirdische Villains sitzen.
Dieser Artikel erschien auf PokerOlymp am 10.11.2009.