Was macht Texas Hold’em Poker so reizvoll? Es sind die Blinds. Man stelle sich vor, niemand müsste gezwungenermaßen Geld in die Tischmitte befördern. Dann könnten alle dasitzen und auf die bestmögliche Starthand (AA) warten, um nur dann zu setzen. Poker wäre so eher uninteressant. Nur dadurch, dass sich von vornherein Chips im Pott befinden und man dem ständigen Aderlass durch die Blinds entgegenwirken muss, kann sich ein interessantes Spiel entwickeln. Texas Hold’em Poker ist ein Kampf um die Blinds und ein guter Spieler muss wissen, wie und wann er Blinds stehlen kann und wie er sie verteidigt.
Gerade in Turnieren, in denen die Blinds schnell ansteigen und alsbald einen erheblichen Teil des Stacks ausmachen, ist es überlebenswichtig zu wissen, wann man die Blinds angreifen, und wann man sie verteidigen sollte. Nehmen wir z.B. ein SitnGo bei Party Poker mit der üblichen Preisstruktur 50-30-20. Von den 10 Spielern seien noch 7 dabei und die Chipstände lauten folgendermaßen:
UTG+) 3400
UTG+1 2700
MP 3700
CO 2500
Button 4300
SB 1700
BB 1700
Blinds 100/200
Alle folden bis zum Small Blind. Mit nur 8,5 BB im Stack und der schlechteren Position für das Spiel nach dem Flop, macht es für den SB (gegen die meisten Gegner) nur Sinn zu folden oder all-in zu gehen. Der SB schaut auf seine Karten und sieht Td6c. Er schätzt, dass der Big Blind ein all-in mit jedem Paar, jedem Ass, KhTh und besser, KdJs , KsQd und QhJh callt.
Was sollte er tun? Td6c ist ja nun alles andere als eine Premiumhand.
Der SB sollte all-in gehen. In mehr als ¾ der Fälle wird er gar nicht gecallt und gewinnt die Blinds und wenn er gecallt wird, ist er ja auch nicht chancenlos, sondern kann auch eine bessere Hand schlagen. Dazu ein paar Zahlen:
Wenn der SB foldet, dann hat er eine Turnierequity von 8,6% (gewinnt durchschnittlich 8,6% vom Preisfond).
Wenn er all-in geht, dann gibt es mehrere Möglichkeiten:
Der BB foldet, dann beträgt seine Equity 10,1%.
Der BB callt und der SB gewinnt (in 33,9% der Fälle, in denen er gecallt wird), dann beträgt die Equity vom SB 17%.
Nur wenn der BB callt und der SB verliert, dann geht die Equity auf 0.
Da der SB aber nur in 24,1% aller Fälle gecallt wird, beläuft sich die durchschnittliche Equity nach seinem all-in auf 9,1%, was deutlich mehr ist als die 8,6% bei einem Fold.
Man sieht, dass selbst Td6c ein all-in wert ist, und bei dieser Palette an Händen, mit denen der Big Blind callt, stellt es sich bei Licht betrachtet heraus, dass der SB mit allen, wirklich allen Händen profitabel all-in gehen kann.
Nun zum Big Blind: Sollte der Big Blind aber wissen, dass der SB mit allen Händen all-in geht, dann kann er sich ausrechnen, mit welchen Händen er profitabel callen kann: Mit mehr als der Hälfte aller Hände, darunter so schwachen Karten wie Qs2s oder Jh3h.
Man kann sich nun fragen, mit was denn der SB all-in gehen sollte, wenn der Big Blind so loose callt: Das wären knapp 40% aller möglichen Hände.
Callt der Big Blind viel, dann kann der Small Blind nur mit wenigen Händen ein all-in riskieren, callt der BB wenig, dann sind viele Hände profitabel. Andersherum stellt es sich für den Big Blind dar: Schiebt der Small Blind seine Chips mit einer sehr großen Palette an Händen in die Mitte, dann muss der Big Blind mit sehr vielen Händen callen, geht der SB nur mit sehr wenigen Händen all-in, dann kann der BB nur selten dagegen halten.
Es gibt ein Gleichgewicht (Nash Equilibrium), in dem weder der Small Blind, noch der Big Blind ihre Palette an Händen ändern können, ohne dass es durch den Gegner ausgenutzt werden kann: In einer idealen Welt ginge der SB mit 61,1% aller Hände all-in
(2d2s+ , Ah2c+ , Ks2d+ , Qh6c+ , Qs2s+ , Jh8c+ , Jd2d+ , Ts7h+ , Tc3c+ ,
9h7s+ , 9h5h+ , 8s7d, 8c4c+ , 7h6s, 7d4d+ , 6s3s+ , 5h3h, 4c3c)
und der Big Blind callte mit 33,9% aller Hände (4d4s+ , Ah2c+ , Kd6s+ , Kh4h+ , Qs9d+ , Qc7c+ ,
JhTs, Jd9d+).
Obwohl beide Blinds noch einen scheinbar gesunden Stack besitzen und man bei einem all-in ein Ausscheiden aus dem Turnier riskiert, ist die Bandbreite an Händen, mit denen die Blinds gestohlen bzw. verteidigt werden sollten, erstaunlich groß.
Ähnliches gilt auch außerhalb der Turnierwelt. Zwar sind beim No Limit die Blinds verhältnismäßig klein, das Konzept des Blindstehlens hat aber genauso Gültigkeit. Hinzu kommt, dass man bei einem Verlust von Chips nicht sofort aus einem Turnier ausgeschieden ist. In einem Turnier besitzen die Chips, die man verliert, mehr Wert, als die Chips, die man gewinnt. Im Ringgame sind alle Dollar gleichviel wert. Man kann also noch befreiter aufspielen (andererseits kann natürlich auch der Big Blind mit einer größeren Bandbreite an Händen verteidigen) und es gibt genügend tighte Spieler, die es profitabel machen, mit einer äußerst großen Palette an Händen zu stehlen.
Gehen wir einfach mal davon aus, dass hinter uns nur tighte Spieler sitzen. Auf einen Standardraise auf 4BB aus dem CO oder vom Button spielen sie nur mit Paaren ab 8h8s und AdJc, AhQs und AcKh mit. Die Wahrscheinlichkeit, dass alle hinter uns Agierenden folden, beträgt 77,9%, wenn man im CO raist, und sogar 84,6% bei einem Raise vom Button. D.h. in über ¾ aller Fälle gewinnt man kampflos 1,5 BB. Selbst wenn man die unrealistische Annahme macht, dass man alle, aber auch alle Hände bei Widerstand aufgibt, macht man langfristig Gewinn. Das zeigt, wie wertvoll das Stehlen der Blinds ist, selbst mit Karten, die auf den ersten Blick gar nicht so vielversprechend aussehen.
Martin Voigt
+)Hier werden die üblichen Kurzschreibweisen für die aktuelle Position am Tisch verwendet. UTG steht für „Under The Gun“ und bezeichnet den Spieler, der vor dem Flop als Erster agiert. MP steht für „Middle Position“ und CO für „Cutoff“.
Dieser Artikel erschien auf PokerOlymp am 26.01.2007.