Live-Poker und Online-Poker, zwei Welten, heißt es. In der einen, online, kenne ich mich nach vier Jahren und einigen 100.000 Händen ein bisschen aus. In der anderen nicht, von einigen 100 Händen in Privatrunden und einem kleinen Casino am nördlichen Rand Ostwestfalens mal abgesehen. Insofern kam mir die Einladung von drei befreundeten Online-Profis ganz recht, in Berlin am Alexanderplatz gemeinsam ein Turnier zu spielen. Das wollte ich zum Anlass nehmen, die Cashgames in der Hauptstadt auszutesten und mir selbst ein Bild zu machen.
Gelesen hatte ich über Live-Poker einiges in den Pokerforen, wo wir Nerds uns austauschen. Zuvorderst steht da viel von diesen vergleichsweise superweichen Partien. Live 5/10 sei etwa zu vergleichen mit Online .25/.50, heißt es da. Zu schön, um wahr zu sein. Auch die wunderbare Auseinandersetzung zwischen Eddy Scharf und Dominik Koferts Pokerstrategen habe ich gespannt verfolgt; ein Streit, der wohl stellvertretend steht für die Spannungen zwischen den Spielern der alten Schule und den im Internet herangewachsenen Poker-Kindern.
Aber wie diese Spannungen und die beiderseitigen Standpunkte einzuschätzen sind, dass wusste ich nicht als Onliner, der kaum einmal das Haus verlässt, geschweige denn Chiptricks beherrscht. Zwar halte ich es für plausibel, dass Scharf oder vergleichbare Leute große Schwierigkeiten hätten, die Partien zu schlagen, in denen ich mich fast täglich behaupte. Andererseits halte ich es auch für wahrscheinlich, dass solche Leute live mit jemandem wie mir den Tisch wischen, weil sie dank irgendwelcher mysteriöser Fähigkeiten aus den Falten auf meiner Stirn oder dem Pulsieren meiner Halsschlagader meine Holecards ablesen. Wer so einen Röntgenblick beherrscht, der spürt, was Sache ist, und muss sich keine Gedanken machen über Ranges, perceived Ranges, Pot Equity, Fold Equity und solchen neumodischen Kram.
Der Zeitpunkt, sich ein Bild zu machen von der Live-Poker-Welt, kam mir jedenfalls sehr gelegen. Nach den WCOOP-Wochen konnte ich kein Online-Poker mehr ertragen. Die millionenschwere Turnierserie auf Stars hatte ich trotz vier Cashes in den roten Zahlen abgeschlossen, außerdem während der Turniertage in Cashgames etwa 40.000 Dollar versenkt. Das reichte, kein Bock mehr. Also das fest eingeplante WCOOP-Main-Event sausen gelassen, Kiste ausgeschaltet und nach Berlin gefahren zu einem „Deep-Stack-Turnier“, wie es in der Ausschreibung hieß. Live-Spieler mögen so ein Turnier tatsächlich als tief empfinden, aber ich habe lächeln müssen, als ich die Struktur sah im Zusammenhang mit dem Begriff „deep“. Das Buyin war 500 Euro, aber wahrscheinlich spielt sich jedes $20-Online-Turnier tiefer.
Das Turnier hatte kaum angefangen, da berichtete der hagere Herr drei Plätze rechts von mir stolz, dass er neulich preflop Asse gefoldet hat – wegen eines schlechten Gefühls. Und dieses Gefühl, so führte er weiter aus, habe ihn nicht getrogen, denn das Board im Zusammenspiel mit den Karten seiner Gegenspieler hätte seine stolzen Asse tatsächlich zerstört. Daraus schloss er, eine gute Entscheidung getroffen zu haben. „Oje“, dachte ich – und war wenig später ziemlich betrübt, als eben jener Herr mir ein Drittel meines Stacks abnahm, indem er check-callend mit seinem Set gegen mein Toppaar mich das Valuebetten übernehmen ließ. Nice hand, sir.
Nachts um 1 war dann der erste Turniertag zuende, und es begann das Dilemma, das mich durch die drei Tage Berlin begleiten sollte: In öffentlichen Glücksspielanstalten ein Cashgame aufzutun, dessen Stakes halbwegs mit denen eines online multitabelnden Mid-Highstakes-Spielers zu vergleichen sind, ist kaum möglich. Gesegnet seien diejenigen, die eine Einladung zu einem vergleichsweise butterweichen 25/50 vor DSF-Kameras ergattern. Drei Tage lang habe ich genörgelt, ob wir nicht die Stakes ein bisschen rauffahren können, aber erfolglos. Na gut, dann also 2,5/5.
Und noch ein Problem offenbarte sich: Beim ansonsten ziemlich kurzweiligen Casino-Livepoker sitzen stets ein paar Leute mit kleinem Stack am Tisch. Die spielen mit 20 bis 50 BB, das nimmt einem einige Möglichkeiten. Die Qualität der Gegenspieler tut den Implied Odds zwar gut, aber ihre kleinen Stacks machen alles wieder kaputt. Und mit Poker hat diese Shortstackerei auch nur entfernt zu tun. Das Shortstack-Phänomen scheint mir live aber anders zu bewerten zu sein als online, wo die Shortstacks einfach nur eine Pest sind, die die Partien zerstört. Live würden wahrscheinlich viele Villains gar nicht spielen, könnten sie sich nicht mit 20BB einkaufen und damit ein bisschen gamblen.
Von 1 bis 3 Uhr saß ich jedenfalls über den Dächern Berlins am Alexanderplatz in einem wahrscheinlich auch nach Live-Maßstäben unfassbar soften 2,5/5. Das habe ich erst gar nicht glauben können, was die anderen da machen, und dachte, an dem Tisch laufe irgendein Metagame, das ich nicht verstehe. Lief es im Grunde auch, aber ganz anders, als ich erst dachte. Vier mittelalte Villains und ein sehr junger, so Anfang 20, der ambitioniert wirkte, aber letztlich nicht wesentlich besser war als die anderen.
Am Ende der Session hat mir zum ersten Mal beim Poker ein Gegenspieler leid getan, nachdem per (Semi-, räusper) Bluffshove mit weniger als 20% Equity gegen mein Toppaar sein zweiter 50BB-Stack den Bach runtergegangen war und er bedröppelt guckte und sagte “Ich dachte, du hast nichts”. Aber abgesehen von dem Umstand, dass sie nicht wussten, was sie tun, waren das allesamt freundliche Menschen, es war eine gute Atmosphäre am Tisch, ich hab mich wohl gefühlt. Die anderen kannten einander, spielen dort wahrscheinlich regelmäßig. Insofern verdient der Samstagabend am Alexanderplatz das Prädikat „empfehlenswert“.
Dieser Artikel erschien auf PokerOlymp am 30.11.2009.