Meiner Erfahrung nach sind nur sehr wenige Spieler in der Lage, ihre Outs auf korrekte Weise zu zählen und die Stärke ihrer Hand richtig einzuschätzen. Dies gilt nicht nur für die niedrigen Limits. Auch in hohen Limits findet man viele Spieler, die nicht wissen, wo in der Hand sie stehen.
Überschätzung der Stärke eines Draws
Vor kurzem kam es beispielsweise zu einer Hand, bei der sich jemand, den ich schon sehr lange gut kenne (nennen wir ihn Dave), beklagte, dass “seine Premiumdraws nie ankommen”. Er hatte J 10 auf einem Flop KQ7 mit zwei Kreuz. Er war in eine Raiseschlacht geraten, in der ein Spieler KQ für Top Two Pair und der andere mit A 10 den Nutflush Draw plus Gutshot hielt. Als Dave den Pot verlor, behauptete er, er könne die Hand auch gleich aufgeben, wenn er “einen Draw mit acht Outs oder mehr auf dem Flop hält, da der Draw eh nie ankommt”. Er rechnete folgendermaßen: zweimal 8 Outs, also insgesamt 16 Karten. Und mit 43 unbekannten Karten im Deck schätzte er dies als sehr profitable Situation ein, um Geld zu setzen.
Das war es aber nicht. Es war vermutlich richtig, wegen des Geldes, das sich bereits in der Mitte befand und seinen Odds, in der Hand zu bleiben, es war aber nie und nimmer gut für ihn, dass auf dem Flop und dem Turn kräftig gesetzt wurde. Weshalb? Nun, zuerst einmal hatte er keine acht Outs. Das aggressive Vorgehen seiner beiden Gegner sollte verdeutlicht haben, dass einer der beiden einen Flush Draw hatte. Er konnte realistischerweise nicht davon ausgehen, dass das Kreuz Ass und die Kreuz Neun Outs wären – tatsächlich konnte man ziemlich sicher davon ausgehen, dass sich das Kreuz Ass nicht mehr im Deck, sondern in einer der gegnerischen Hände befand. Er hätte also wahrscheinlich von sechs, nicht von acht Outs ausgehen sollen.
Das ist aber noch nicht alles. Bei der Einschätzung der Stärke seiner Hand machte dieser Spieler den häufigen Fehler, zu denken, seinen Draw zu treffen sei automatisch gleichbedeutend damit, den Pot zu gewinnen. Wie wir sehen werden, ist das keineswegs der Fall. Tatsächlich hatten seine beiden Gegner in dieser Hand Draws zu besseren Händen als er. Jeder Bube gäbe dem Flush Draw eine höhere Straße, jedes Kreuz macht den Flush und ein König oder eine Dame würden der Person, die zwei Paare hat, ein Full House geben. Falls also eine dieser Karten auf dem Turn käme, wäre Dave drawing dead. Und selbst wenn er auf dem Turn seine Straße treffen würde, hätten seine Gegner noch Redraws auf dem River, da sie Draws zu besseren Händen hatten.
Deshalb hatte er keineswegs einen Premiumdraw. Tatsächlich waren es seine Gegner, die ihr Geld korrekt investierten, indem sie raisten und reraisten. Der eine hielt die aktuell beste Hand, und der andere bekam gute Odds mit seinem Premiumdraw. Selbst mit seiner jahrelangen Erfahrung sah Dave nicht (oder wollte es nicht sehen), dass die Situation nicht so gut war, wie er sie einschätzte. Tatsächlich machten in der Hand seine Gegner Geld – auf seine Kosten.
Unterschätzung der Stärke eines Draws
Dies war ein Beispiel, in dem jemand den Wert seines Draws drastisch überschätzte. Vor einiger Zeit jedoch wurde ich selbst dafür kritisiert, diesen Fehler zu machen. Dies war passiert:
Mit K Q und drei Limpern vor mir raiste ich auf dem Button. Beide Blinds callten und sechs Spieler sahen den Flop J92 mit einem Karo. Der Small Blind bettete aus und wurde vom Big Blind geraist. Alle anderen foldeten zu mir. Während ich überlegte, was ich machen sollte, callte der Small Blind, der nicht mitbekommen hatte, dass ich noch in der Hand war, den Raise. Nun entschied ich mich ebenfalls dafür, den Raise zu callen, um den Turn für zwei Small Bets zu sehen.
Als ich am Ende den Pot gewann, kritisierte mich jemand dafür, den Raise auf dem Flop gecallt zu haben. Er sagte: “Du behauptest so gut zu sein, mit deinen Artikeln usw., aber hier hast du nicht nur eine, sondern zwei Bets mit nicht mehr als einem Gutshot gecallt. Das war eindeutig schlecht, da du niemals korrekte Odds dafür hattest, mit einem Gutshot so viel zu bezahlen.”
Wieder schätzte ein Spieler die Stärke einer Hand nicht korrekt ein. Letztendlich war meine Hand nicht nur ein Gutshot. Als der Small Blind nicht reraiste, ging ich davon aus, die Chancen stünden gut, dass er nur ein Paar hält. Und der Big Blind musste auch nicht unbedingt mehr als ein Paar haben – auch wenn das alles andere als sicher war. Für meine Hand bedeutete dies, ein König oder eine Dame könnten mich den Pot gewinnen lassen (neben der Zehn natürlich, die mir die Nuts gegeben hätte). Außerdem hatte ich einen Backdoor Flush Draw.
Hätte ich nicht gewussst, dass der Small Blind bloß callt, dann hätte ich aus zwei Gründen wahrscheinlich gefoldet:
• Es könnte erneut geraist werden, und ich würde drei oder sogar vier Bets bezahlen müssen, um den Turn zu sehen.
• Falls ich zwei Small Bets calle, und der Small Blind dann erneut raist, würde ich wissen, dass ein König oder eine Dame auf dem Turn fast sicher nicht genug wären, um den Pot zu gewinnen. In diesem Fall hätte ich drei oder vier Small Bets mit nicht mehr als einem Gutshot bezahlt – ein Spielzug mit eindeutig negativem Erwartungswert.
Aber dadurch, dass der Small Blind seine Absichten verfrüht zeigte, verhalf er mir dazu, einen profitablen Call zu machen, weil ich korrekt analysierte, was sein Call für die Stärke meines Draws, genauer gesagt, meiner Overcards, bedeutete. Da bereits 12 Small Bets vor dem Flop im Pot waren, und ich zwei Bets in einem Pot von schließlich insgesamt 18 Bets callte, wäre ein Fold zu diesem Zeitpunkt eine absolut fürchterliche Entscheidung gewesen wäre – trotzdem dachte der Spieler, der mich kritisierte, es wäre der korrekte Spielzug gewesen.
Rolf Slotboom
Dies ist ein Auszug aus dem D&B-Buch “Hold’em On The Come: Limit Hold’em Strategy For Drawing Hands” von Rolf Slotboom und Dew Mason. Weitere Informationen finden Sie auf Rolfs eigener Seite www.rolfslotboom.com oder der Seite des Verlags, www.dandbpoker.com.
Dieser Artikel erschien auf PokerOlymp am 12.01.2008.